Swinemünder Straße
Hobrechts Berlin
Die meisten Bauten der Berliner Innenstadt haben eine einheitliche Traufhöhe: 22 Meter. Das bedeutete bis zum Ersten Weltkrieg: fünf Geschosse. In den einstigen Berliner Vororten sind es nur vier Geschosse. Stuckverzierte Miethäuser dieser beiden Typen schufen das bis heute erlebbare Stadtbild von Berlin. Hinter den Vorderhäusern erstreckten sich die Hinterhöfe. Die meisten Straßen der inneren Stadt haben eine Breite von 22 Metern – mit großzügigen Bürgersteigen. 22 Meter – das ist das Berliner Maß schlechthin, eine Besonderheit in Europa. Diese geht auf die Bauordnung und einen Architekten-Ingenieur zurück: James Hobrecht, der 1862 im Auftrag des Preußischen Innenministers den „Bebauungsplan der Umgebungen Berlins“ vorlegte. Der spätere Stadtbaurat für Straßen- und Brückenbau und langjährige Vorsitzende des Architekten-Vereins zu Berlin entwarf nicht nur das bis heute die Innenstadt prägende Straßensystem, sondern zugleich noch ein großartiges Kanalisationssystem, das auch als Vorbild für andere Städte in aller Welt diente. Eine der besonders prominenten Straßenachsen im Bebauungsplan von 1862 ist die Swinemünder Straße.
Swinemünder Straße mit der Millionenbrücke, 1908
Die bis dahin längste und teuerste Brücke Berlins wurde nach Plänen des Jugendstilarchitekten Bruno Möhring und des Ingenieurs Friedrich Krause errichtet. Sie stellte ab 1905 den durch die Ringbahn 1871 unterbrochenen Verlauf der Swinemünder Straße wieder her.
Drei Plätze
Die Swinemünder Straße mit der Platzfolge Zionskirchplatz, Arkonaplatz und Vinetaplatz ist eine der bedeutendsten städtebaulichen Anlagen des „Bebauungsplans der Umgebungen Berlins“. Sie beginnt im Ortsteil Mitte am Zionskirchplatz und erstreckt sich auf zwei Kilometern Länge nach Norden bis zur Swinemünder Brücke im Ortsteil Gesundbrunnen. Der Entwurf für die Zionskirche und die Gestaltung des Zionskirchplatzes stammen von einem der wichtigsten Kirchenarchitekten seiner Zeit: August Orth. Der Arkonaplatz und der Vinetaplatz wurden durch den Berliner Stadtgartendirektor Hermann Mächtig als Schmuckplätze gestaltet.
Ausschnitt aus dem Straubeplan mit dem Verlauf der Swinemünder Straße, 1910
Auf ihrem 1.900 Meter langen Verlauf verbindet die Swinemünder Straße den Zionskirchplatz mit der Swinemünder Brücke. Bis zum Zweiten Weltkrieg verlief auf der großzügigen Mittelpromenade eine Straßenbahn.
Zionskirche mit dem durch Miethäuser eingefassten Zionskirchplatz, um 1900
Der Entwurf für die Gestaltung der Kirche und des Platzes stammt von August Orth auf der Grundlage eines Entwurfs von Gustav Möller. Den Architekten war die städtebauliche Betonung des Platzes so wichtig, dass sie die Kirche nicht wie üblich nach Osten ausrichteten.
Zionskirchplatz mit Grundriss der Zionskirche, 1866
Auf der Grundlage des Hobrechtplans entwarf August Orth eine fünfeckige Platzanlage mit einem repräsentativen halbrunden Vorplatz, einer mosaikgepflasterten Wegerschließung und lindenbestandenen Zierbeeten und Gittereinfassungen.
Entwurf für den Vinetaplatz, 1887
Aufbauend auf einem Vorentwurf von James Hobrecht entwarf Berlins Stadtgartendirektor Hermann Mächtig zwei symmetrische Schmuckplätze mit den zeittypischen Diagonalwegen und symmetrischen Baumbepflanzungen.
Die Straße und das Berliner Miethaus
Wichtiges Element im Hobrecht‘schen Städtebau war die Gliederung des städtischen Straßensystems in breitere Hauptstraßen und schmalere Wohnstraßen. Die Straßen wurden von der öffentlichen Hand mit hochwertigen Materialien ausgestaltet, die Blöcke hingegen in schmale Grundstücke parzelliert und an private Bauwillige verkauft. Entwurf und Ausführung der Miethäuser wurde den Eigentümern und ihren Architekten oder Baumeistern überlassen, natürlich auf der Grundlage der geltenden Bauordnung. Auf diese Weise entstanden einheitliche Straßenzüge aus leicht variierenden Einzelhäusern.
Blick vom Zionskirchplatz in Richtung Norden in die Swinemünder Straße, um 1870
Im Vordergrund zu sehen sind die feinen Gittereinfassungen am Zionskirchplatz mit Blick auf die Swinemünder Brücke im Hintergrund.
Swinemünder Straße mit Blick in Richtung Westen in die Demminer Straße, um 1910
Zwischen der Bernauer und der Demminer Straße lag das großzügig angelegte stadträumliche Herz des Brunnenviertels mit einer breiten Mittelpromenade und Gartenrestaurants.
Swinemünder Straße mit Blick in Richtung Norden über die Bernauer Straße, um 1920
Die Straßenbahn wurde bereits von der Fahrgasse auf die Mittelpromenade verlegt, um die Fahrbahnen für den Automobilverkehr vorzubereiten.
Swinemünder Straße Ecke Rügener Straße mit Blick auf die Swinemünder Brücke, um 1930
Nach der Errichtung der Swinemünder Brücke verband die Swinemünder Straße das Brunnenviertel mit dem nördlich der Ringbahn liegenden Gesundbrunnen.
Die parzellierte Straße, 1896
Im amtlichen Nummerierungsplan der Swinemünder Straße sind die Parzellen und die Namen der Eigentümer eingetragen. Überwiegend gehörte einem Eigentümer nur ein einzelnes Miethaus, aber stellenweise befanden sich ganze Straßenabschnitte im Besitz einer einzelnen Eigentümerschaft.
Straßenprofile und deren Begrünung, 1861
Das aus dem Erläuterungsbericht zur Abteilung X des Bebauungsplans stammende Blatt von James Hobrecht zeigt unterschiedlich breite Straßenprofile und deren differenzierte Ausgestaltung mit Baumalleen, Promenaden, Pflanzbeeten und Vorgärten.
Neubau eines Berliner Miethauses an der Swinemünder Straße 21, 1887
Den Bauantrag für die Errichtung des Miethauses mit Vorderhaus und Seitenflügel unterzeichnete Maurermeister Prescher sowohl als Eigentümer als auch als Bauausführender.
Die Großstadttechnik
Weiteres prägendes Element des Hobrecht’schen Städtebaus war der Aufbau einer modernen Infrastruktur. Durch ein immenses Brückenbauprogramm, den Aufbau von Systemen für Trinkwasser, Gas, Elektrizität und Abwasser sollten die Gesundheitsbedingungen und Fortbewegungsmöglichkeiten der wachsenden Bevölkerung verbessert werden. Ohne diese sorgfältig konzipierte Großstadttechnik hätte Berlin als Millionenmetropole gar nicht entstehen können.
James Hobrecht, Schema der Straßen- und Grundstücksentwässerung, 1884
Das Entwässerungssystem im Hobrecht‘schen Berlin sammelte die Straßenentwässerung, die Hofentwässerung und die Hausentwässerung in einem zentralen Kanalisationssystem, bevor es über Pumpstationen auf große Rieselfelder außerhalb der Stadt weitergeleitet wurde.
James Hobrecht, Elemente der städtischen Entwässerung
Das unterirdische Kanalisationssystem machte sich an vielen kleinen Elementen im Stadtraum bemerkbar, beispielsweise durch gepflasterte Rinnsteine, Granitborde oder gusseiserne Gullyeinläufe und Schachtabdeckungen. Noch heute verraten uns diese kleinen Details, ob wir uns in einem Bereich des Hobrecht‘schen Kanalisationssystems befinden.
Swinemünder Brücke, Gesamtansicht 1906 und Zeichnung
Ein immenses Brückenbauprogramm trug während der Kaiserzeit dazu bei, die wachsende Metropole besser zu vernetzen. Projekte wie die Swinemünder Brücke nach Plänen des Architekten Bruno Möhring und des Ingenieurs Friedrich Krause waren aber auch Symbole für den Aufbruch in eine moderne Ära.
Berliner Gaslaternen
Auch die Errichtung von Gaslaternen im Hobrecht‘schen Berlin war Teil eines umfassenden Modernisierungsplans. Die Leuchten verschönerten das Stadtbild, verbesserten die öffentliche Sicherheit und trugen damit zur Entwicklung der Stadt und zur Verbesserung der Lebensbedingungen bei.
Aufriss einer öffentlichen Bedürfnisanstalt, 1878
Scherzhaft im Volksmund auch „Café Achteck“ genannt, gehörten die grün lackierten, ornamental verzierten gusseisernen Pissoirs zu einem groß angelegten Programm der öffentlichen Gesundheitsförderung und Modernisierung der Großstadt.
Der große, bis heute prägende Plan
Um 1860 arbeiteten neben Berlin auch Wien, Barcelona oder Paris an Modernisierungsplänen. Mit dem „Bebauungsplan der Umgebungen Berlins“ von 1862 war die preußische Hauptstadt also Teil einer paneuropäischen Entwicklung im Städtebau. All diese Pläne wurden auf Initiative des Staats, nicht der Stadt, erarbeitet. Im Zuge der Planaufstellung arbeitete James Hobrecht in seinem „Commissarium“ im Königlichen Polizeipräsidium zahlreiche Varianten zu sämtlichen Teilen des Plans aus, stimmte sich eng mit den Grundbesitzern ab und versuchte, bereits bestehende Straßen und Gebäude in den Bebauungsplan aufzunehmen. Um Kosten zu sparen, wurden allerdings viele Quartierplätze und Wohnstraßen nicht ausgeführt.
James Hobrecht, Variante A der Abteilung XI des Stadterweiterungsplans, 1861
Hobrecht erarbeitete zahlreiche Alternativen für die Platzfolge entlang der Swinemünder Straße, die aber aufgrund von Widerständen seitens der Grundstückseigentümer, des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung sowie durch den Bau der Ringbahn in dieser Form nicht ausgeführt wurden.
Plan von Berlin und Umgebung bis Charlottenburg von James Hobrecht, 1862
Eingetragen sind hier die 15 Abteilungen des Bebauungsplans. Der auf 50 Jahre ausgelegte Plan sollte nach Hobrechts Berechnungen eineinhalb Millionen zusätzliche Einwohner aufnehmen können.
Nicht ausgeführte Straßen und Plätze des Hobrecht’schen Bebauungsplans
Meist um Kosten zu sparen, wurden die rot hervorgehobenen Straßen und Plätze nicht ausgeführt. Als Folge entstanden im Hobrecht‘schen Stadtgebiet weitaus weniger Quartierplätze und oftmals größere Blöcke als ursprünglich geplant.
Stadterweiterungsplanungen für die innere Stadt Wien ab 1859, für Barcelona ab 1859 und für den Umbau von Paris ab 1853
Während Hobrecht mit seiner Kommission ab 1859 an seinem Stadterweiterungsplan für Berlin arbeitete, brachten zeitgleich auch andere europäische Großstädte große Pläne auf den Weg.
Teilung und Bühne der Stadterneuerung in West und Ost
Durch die Spaltung Berlins wurde auch die Swinemünder Straße geteilt und mit dem Bau der Mauer an der Bernauer Straße 1961 unüberwindbar blockiert. Beide Straßenabschnitte wurden dann jeweils Musterbeispiele der Stadterneuerung in Ost und West. Während im Westen mit dem „Sanierungsgebiet Wedding/Brunnenstraße“ eine Kahlschlagsanierung mit Neubebauung entschieden wurde, blieben auf der anderen Seite der Mauer die Altbaublöcke zunächst stehen und wurden ab 1971 im Zuge eines von der SED gestarteten Wohnbauprogramms entkernt und handwerklich rekonstruiert.
Die „Schandmauer“, Situation im Juli 1963
Nach dem Mauerbau 1961 wurde an vielen Stellen, wie hier 1963 an der Ecke zwischen Bernauer Straße und Swinemünder Straße, die ursprünglich gemauerte Grenzanlage durch eine Betonmauer ersetzt. Links im Bild sind noch die zugemauerten Fenster an der Swinemünder Straße 21 bis 24 zu sehen, die im Zuge des Ausbaus der Grenzanlage bis 1966 abgerissen wurden.
Lage der Sanierungsgebiete des Ersten Stadterneuerungsprogramms, 1963
Das Sanierungsgebiet Wedding/Brunnenstraße war das größte von insgesamt sieben Sanierungsgebieten in Berlin, das größte in Deutschland und angeblich sogar das größte in Europa. Für den nördlichen Teil der Swinemünder Straße ab der Bernauer Straße bedeutete dies den Totalabriss der historischen Bausubstanz. Nach der Überzeugung des West-Berliner Senats sollte auf diese Weise eine bessere Stadt entstehen.
Beginn der Kahlschlagsanierung Ecke Swinemünder und Demminer Straße, 1963
Nachdem die Altbauten leergezogen worden waren, begann der flächendeckende Kahlschlag der Häuser durch Sprengung.
Die Abräumarbeiten rund um den Vinetaplatz, um 1949
Während die Häuser im Vordergrund entlang der Stralsunder Straße bereits vollständig abgeräumt und die Keller verfüllt worden waren, stand den Altbauten im Bildhintergrund rund um den Vinetaplatz der Abriss unmittelbar bevor.
Erste Neubauten im Sanierungsgebiet Wedding/Brunnenstraße
Stolz werden in einer Senatsbaubroschüre von 1964 die ersten fertiggestellten Wohnhäuser im Sanierungsgebiet präsentiert, hier an der Usedomer Straße.
Wiederaufbau eines Altbaus im Rekonstruktionsgebiet Arkonaplatz, um 1974
Das Rekonstruktionsgebiet lag direkt südlich der Mauer im Ost-Berliner Bezirk Mitte. Hier begann ab 1970 eine behutsame und handwerkliche Sanierung von Altbauten. Stolz posiert die „Brigade Horst Kunze“ vor einem ihrer rekonstruierten Häuser.
Rekonstruktion von Altbauten in der Zionskirchstraße im Rekonstruktionsgebiet Arkonaplatz, 1984
Das Rekonstruktionsgebiet erstreckte sich von der Rheinsberger Straße im Norden bis zum Zionskirchplatz im Süden und umfasste die Blöcke rund um den Arkonaplatz, hier mit Blick von der Zionskirchstraße in die Griebenowstraße.
Rekonstruktion eines Blockinneren im Rekonstruktionsgebiet Arkonaplatz, 1984
Die Altbaublöcke wurden im Zuge der Stadterneuerung entkernt, was für viele Hinterhäuser den Abriss bedeutete. Ähnlich wie zeitgleich in West-Berlin entstanden an ihrer Stelle gemeinschaftlich genutzte und großzügigere Innenhöfe.
Feierliche Übergabe der zweimillionsten Wohnung, 1984
Das spektakuläre Zwischenergebnis in dem 1971 durch die SED ausgerufenen Wohnungsbauprogramm, das bis zu drei Millionen neue und modernisierte Wohnungen vorsah, wurde „im Beisein Erich Honeckers“ am 9. Februar 1984 mit der Einweihung einer sanierten Altbauwohnung an der Swinemünder Straße 120 gefeiert.
Akteure
James Friedrich Ludolf Hobrecht (1825–1902)
Nach der erfolgreich abgelegten Wasser-, Wege- und Eisenbahnbaumeisterprüfung an der Bauakademie leitete Hobrecht ab 1859 die Kommission zur Ausarbeitung des „Bebauungsplans der Umgebungen Berlins“ im Auftrag des preußischen Staates. 1873 wurde er Chefingenieur für den Bau der Berliner Kanalisation, 1885 Berliner Stadtbaurat für Tiefbau. Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung prägte er zwischen 1873 und 1887 als Vorsitzender den Architekten-Verein zu Berlin.
August Orth (1828–1901)
Nach dem Examen an der Bauakademie arbeitete Orth zunächst bei mehreren Eisenbahngesellschaften, bevor er sich 1866 als Architekt selbstständig machte. Maßgeblich prägte Orth das Berliner Stadtbild als Visionär der Berliner Stadtbahn und als Architekt zahlreicher Bahnhöfe und Kirchen. Orth war seit 1852 Mitglied und von 1872 bis 1877 Vorstandsmitglied des Architekten- Vereins zu Berlin.
Hermann Mächtig (1837–1909)
Nach seiner Ausbildung bei Peter Joseph Lenné und Gustav Meyer wurde Mächtig 1877 als Nachfolger Meyers zum Gartendirektor Berlins ernannt und blieb dies bis 1909. In seinen dreißig Amtsjahren gestaltete er viele Berliner Stadtparks, Plätze und Straßen, wie den Viktoriapark, den Vinetaplatz oder die Schloßstraße in Charlottenburg.
Friedrich Krause (1856–1925)
Nach dem Studium an der Bauakademie war Krause zunächst als Stadtbaurat in Stettin tätig, bevor er 1897 die Nachfolge von James Hobrecht als Berliner Stadtbaurat für Tiefbau antrat. Er prägte maßgeblich den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, etwa mit den Ost- und Westhäfen und dem Bau zahlreicher Brücken, und war Ehrenmitglied des Architekten-Vereins zu Berlin.