Leninallee in Ost-Berlin
Und dem Auto zugewandt
Die 1960er Jahre markierten den Gipfelpunkt des Umbaus von Gesamtberlin zur autogerechten Stadt. Ohne großes Aufsehen und im Schatten des Kalten Krieges wurde die Verkehrsplanung Ost-West-übergreifend koordiniert. Trotz des geringen Autobesatzes planten und bauten auch die Ost-Berliner Verkehrsexperten für eine automobile Zukunft. Die vielleicht autogerechteste Hauptstraße in Ost-Berlin war die Leninallee, heute Landsberger Allee. Schon der Name – Leninallee – unterstrich die außerordentliche Bedeutung dieser Straße, die das Zentrum von Ost-Berlin mit Marzahn verband. Ihr Ausgangspunkt war der Leninplatz mit seinen Hochhäusern und einer kolossalen Leninstatue. Die Leninallee bot und bietet noch heute ungenutzten Raum im Überfluss. Es gibt an keiner Stelle einen längeren, für Fußgänger attraktiven urbanen Abschnitt. Die Nutzungen sind zumeist monofunktional, für sich genommen oft auch attraktiv, aber ohne jeden Zusammenhang und in der Regel ohne Bezug zur Straße: etwa ein Sport- und Erholungszentrum, die Großsiedlungen Fennpfuhl und Marzahn, zahlreiche Einkaufszentren und Einrichtungshäuser oder die Bockwindmühle Marzahn.
Leninplatz (heute Platz der Vereinten Nationen) mit Lenindenkmal und Wohnhäusern in Berlin, 16. April 1980
Die Straße zeigt sechs Fahrspuren, aber wenige Autos. Der weiträumige Platz ist sehr offen angelegt.
Ein kolossaler Auftakt: der Leninplatz
Der Leninplatz galt als herausragendes Beispiel des modernen sozialistischen Städtebaus. Das Wohnhochhaus und das monumentale Lenindenkmal waren auf der rund elf Kilometer langen Leninallee seit 1970 ein weithin sichtbares Wahrzeichen. Der Leninplatz war nicht nur ein Wohngebiet mit Kaufhalle, Kindergarten und Postamt, sondern auch Verkehrsknotenpunkt, touristische Attraktion und Versammlungsort für politische Kundgebungen. 1991 erfolgte die Umbenennung in Platz der Vereinten Nationen, das Lenindenkmal wurde abgebaut. Heute schmiegt sich der Platz unauffällig als Grünfläche zwischen Volkspark und Strausberger Platz.
Modell des Leninplatzes, 1968
Geschwungene Wohnhausscheiben um die Platzmitte symbolisieren mit einem S- und U-Schwung die deutsch-sowjetische Freundschaft. Der Entwurf des Platzes stammt von einem Kollektiv um den Architekten Hermann Henselmann.
Blick auf den Leninplatz, wohl 1970er Jahre
Auf dem riesigen Platz mit seinem bescheidenen Auto- und Fußgängerverkehr wirkte die Kolossalstatue von Lenin mit Fahne schon beinahe verloren. Die Rückseite der Statue zeigte ein Relief, wie sich deutsche und sowjetische Arbeiter die Hände reichen.
Der Raum an der Leninstatue war ein repräsentativer Ort für partei- und staatspolitische Inszenierungen und Massenveranstaltungen. Entworfen wurde das 19 Meter hohe Monumentaldenkmal aus rotem Granit von dem sowjetischen Bildhauer Nikolai Tomski.
Kopf der Leninstatue in der Zitadelle Spandau, 2016
Der Leninplatz war eine der touristischen Hauptsehenswürdigkeiten Ost-Berlins. 1991 wurde das Lenindenkmal unter Protesten abgebaut. An seiner Stelle symbolisieren heute Brunnensteine auf einer Grünfläche die fünf Kontinente. Der Kopf Lenins befindet sich heute in der Zitadelle Spandau.
Allee der gesunden Begegnung
Entlang der Leninallee wurden zahlreiche Sport- und Freizeitstätten angelegt. Im Süden der Allee entstanden die Werner-Seelenbinder-Halle (1950) und das Friesen-Schwimmstadion (1951). Später kamen das Sport- und Erholungszentrum (1981) und mehrere Sportanlagen um den Volkspark Friedrichshain hinzu. Schließlich sollten Sporthallen, die Schwimmhalle am Anton-Saefkow-Platz (1981) und die Schwimmhalle im Freizeitforum Marzahn (1989) Erholung für die dicht besiedelten Wohngebiete im Norden der Allee bieten. Ab den 1990er Jahren wurden die Werner-Seelenbinder-Halle und das Friesen-Schwimmstadion abgerissen. Ein Abriss des Sport- und Erholungszentrums SEZ ist geplant.
Orientierungsplan mit Sportstätten in Ost-Berlin, 1951
Im Rahmen der „III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ präsentierte sich Ost-Berlin als Stadt des Sports und der Kultur. Auf dem Plan sichtbar ist entlang der Leninallee der Sportpark im Volkspark Friedrichshain, das Friesen-Schwimmstadion, die Werner- Seelenbinder-Halle und das BVG-Stadion in Lichtenberg.
Sport- und Erholungszentrum (SEZ), 1990er Jahre
Das 1981 eröffnete SEZ beherbergte am Volkspark Friedrichshain ein Schwimm- und Spaßbad, eine Bowlinganlage, eine Eis- und Rollschuhlaufbahn sowie Sporthallen und Versorgungseinrichtungen. 2003 wurde es geschlossen. 2024 ist sein Abriss für den Bau von 500 Wohnungen und einer Schule geplant.
FDGB-Kongress in der Werner- Seelenbinder-Halle, 1972
Die Werner-Seelenbinder-Halle war eine zentrale Sportstätte der DDR und wurde für politische Veranstaltungen und Konzerte genutzt. 1992 wurde die Halle abgerissen. An ihrer Stelle entstanden das Velodrom sowie eine Schwimm- und Sprunghalle.
Schwimmhalle am Anton-Saefkow-Platz, 1984
Die Schwimmhalle samt charakteristischem Wellendach mit Schwimmbecken, Nichtschwimmerbecken und Sauna ist seit 1981 inmitten des Wohngebiets Fennpfuhl in Betrieb.
Wohnen neben der Straße: Fennpfuhl und Marzahn
Ab den 1970er Jahren entstanden entlang der Leninallee zwei der bedeutendsten neuen Siedlungen der DDR. Das Neubaugebiet Fennpfuhl mit fast 16.000 Wohnungen war das erste industriell errichtete Wohngebiet Ost-Berlins. Mit der Großwohnsiedlung Marzahn entstand im Norden der Leninallee die größte Siedlung der DDR. Bis 1989 wurden hier rund 59.000 Wohnungen gebaut. Für die außerhalb des S-Bahn-Rings liegenden Wohnsiedlungen wurde ein neues Straßenbahnnetz aufgebaut. Zur sozialen Infrastruktur gehörten ein eigenes Versorgungszentrum, Kindergärten, Schulen, Arzthäuser und Sporteinrichtungen.
Fennpfuhl, Freizeitflächen im Wohngebiet 1 jenseits der Leninallee, 1970er Jahre
Eine Besonderheit der Siedlung war die Kunst im öffentlichen Raum. Das Wandbild „Glück und Frieden unseren Kindern“ von Dieter Gantz und Rolf Schubert existiert heute nicht mehr.
Das Zentrum der Siedlung: die Wasserfläche, 1987
Weitab von der Leninallee wurden die wichtigsten Einrichtungen für die Versorgung und den Konsum geschaffen. Neben Kaufhallen, Kindergärten, Schulen, Schwimm- und Sporthallen und einer Poliklinik gehörten dazu auch Restaurants wie die Gaststätte „Seeterrasse“ inmitten des Wohngebiets am See. Sie wurde 2008 abgerissen.
Skizze des Neubaugebiets Marzahn, 1978
Erst ab den 1970er Jahren führte die Leninallee nicht mehr durch das alte Dorf Marzahn. Typisch für die nördlich der Allee gebaute Großwohnsiedlung Marzahn sind Wohnhochhäuser mit bis zu 25 Geschossen.
Neue Wohnsiedlungen an der Leninallee in Lichtenberg, 1983
Von 1977 bis 1983 wurden gegenüber dem Zwischenpumpwerk Lichtenberg mehrere Wohngebäude zwischen der Altenhofer und Zechliner Straße errichtet. Sie halten deutlichen Abstand zur Leninallee.
Marzahner Promenade mit einer Autoparade von Lada, Wartburg und Trabant, 1986
Die Promenade, ein Zentrum von Marzahn, war durch eine Häuserkette von der Leninallee abgeschottet. Sie wurde nach Plänen des Architekten Wolf-Rüdiger Eisentraut zwischen 1979 und 1990 mit Kaufhaus, Freizeiteinrichtungen und einer Einkaufsmeile erbaut. Hauptpostamt und Kaufhaus wurden abgerissen und 2005 durch das Einkaufszentrum Eastgate ersetzt.
Tram und Trabant. Die Leninallee in der Verkehrsplanung der DDR
Für die Verkehrsplanung in der DDR waren die Priorisierung von öffentlichem Massenverkehr gegenüber dem Individualverkehr sowie wenig Durchgangsverkehr in Wohnsiedlungen wichtige Ziele. Ost-Berlin verfügte neben S- und U-Bahnstrecken im Gegensatz zu West-Berlin immer auch über ein umfangreiches Straßenbahnnetz. Dennoch fanden sich dort auch Kernelemente einer autogerechten Stadt wie mehrspurige Straßenbänder, Untertunnelungen, Stadtschnellstraßen oder der partielle Rückbau von Straßenbahnen. Die Leninallee war vor allem auf Auto- und Busverkehr als Hauptnutzer ausgerichtet.
Plan des Straßenhauptnetzes, Ost-Berlin, 1969
Der Generalverkehrsplan der DDR sah ein Radial-Tangential-System vor. Die Radialen sollten den Verkehr in das Zentrum führen, die Tangenten sollten ihn am Zentrum vorbeiführen.
Vorschläge zur besseren städtebaulichen Gestaltung der Magistrale Leninallee, 1975
Sichtbare Großbauten sollten dem Autofahrer Orientierung geben: die Wohngebäude am Leninplatz, das Sport- und Erholungszentrum, die Wohnsiedlungen am Fennpfuhl und in Marzahn. Die Vorschläge wurden unter anderem von Manfred Zache im Auftrag des Ministeriums für Bauwesen und des Magistrats von Berlin erarbeitet.
Blick über die Leninallee zum Alexanderplatz, 1980
Vom Krankenhaus Friedrichshain gesehen teilen sich auf der Leninallee Autos und Straßenbahn die Fahrbahn. Erst außerhalb des S-Bahn-Rings verlaufen Tram- und Autoverkehr voneinander getrennt.
Lärmmessung an einer Straßenkreuzung der Leninallee, 1976
Nach dem Beschluss vom IX. Parteitag der SED 1976 sollte die Lärmbelastung in Wohngebieten vermindert werden. Zur besseren Einschätzung dienten Lärmmessungen wie an der Straßenkreuzung Bersarinstraße/ Leninallee (heute Petersburger Straße/Landsberger Allee).
Immer modern! Auch in der DDR: „Verkehr in der modernen Stadt“, 1962
Wolfgang Weigel: „Die Meisterung der künftigen Motorisierung verlangt einen neuen, sicheren und leistungsfähigen Straßentyp – die anbaufreie Hauptverkehrsstraße. […] Die neuen Hauptverkehrsstraßen werden also Einzweckstraßen für den Kraftfahrzeugverkehr sein müssen und sich entsprechend der Stadtgröße zu Stadtschnellstraßen (Stadt-Autobahnen) entwickeln.“
Straßenbahn-Netz von Ost-Berlin, 1989
In Ost-Berlin wurde in Mitte und Treptow die Straßenbahn zurückgebaut. Ihr massiver Ausbau in den neuen Wohngebieten im Nordosten Berlins ist jedoch noch heute sichtbar.
Nach 1989: eine US-amerikanische Allee?
1992 wurde die Leninallee zur Landsberger Allee – und zur Shoppingmeile. Sie wurde daher auch die „amerikanischste der Berliner Straßen“ genannt (taz, 2002). Dem Kaufpark Eiche (1994) am Stadtrand Berlins folgten rasch weitere Einkaufszentren wie das Allee-Center (1994), Forum Landsberger Allee (1996), Castello Kiez Center (2000) und Eastgate (2005). Dazu kamen Einrichtungshäuser wie Möbel Max (1994–2014), Ikea (2010), Globus (2011) und Möbel Höffner (2017). Zurzeit wird die Allee weiter autogerecht ausgebaut. Weniger bekannt ist, dass die Ausfallstraße auch eine Hauptader der Berliner Wasserversorgung darstellt, die in den nächsten Jahren saniert werden wird.
Allee-Center, 2024
Als eines der ersten Einkaufszentren entlang der Landsberger Allee eröffnete 1994 das Allee-Center mit Geschäften, Ärztezentrum, Gastronomie und einem Parkhaus.
Kaufpark Eiche, 2024
Der Kaufpark Eiche wurde 1994 knapp außerhalb der Berliner Stadtgrenze an der Landsberger Chaussee errichtet. Das Fachmarktzentrum mit Lebensmitteleinzelhandel und rund 4.000 Parkplätzen sollte die Großwohnsiedlungen Marzahn und Hellersdorf versorgen.
Einkaufszentrum Eastgate, 2006
Das 1987 errichtete Kaufhaus am Marzahner Tor wurde abgerissen. 2005 eröffnete an dieser Stelle das Einkaufszentrum Eastgate.
Visualisierung der Brückenknoten 2 und 3 beim Verkehrsknoten Marzahn, 2024
Am Verkehrsknoten Marzahn kreuzen sich die Landsberger Allee, die Märkische Allee und die Gleisanlagen der Fern- und S-Bahn. Bis 2029 sollen die veralteten Brückenknoten neu gebaut, der Fußgängertunnel instandgesetzt und die Trambrücke erneuert werden.
Verkehrsknoten Platz der Vereinten Nationen, 2024
Auf dem Platz der Vereinten Nationen kreuzen der Autoverkehr vom Alexanderplatz und Strausberger Platz sowie die Straßenbahn.
Landsberger Allee in Marzahn, 2024
Die Landsberger Allee trennt an ihrem Berliner Ende großflächig die Großwohnsiedlung Marzahn und das Dorf Alt-Marzahn mit der Bockwindmühle.
Akteure
Hermann Henselmann (1905–1995)
Der Leninplatz wurde 1968–1970 auf Grundlage eines Entwurfs von Architekt Hermann Henselmann und Kollektiven der Bauakademie der DDR entwickelt. Henselmann beeinflusste die Gestaltung Ost-Berlins unter anderem als Chefarchitekt beim Magistrat von Berlin (1954–1959).
Dorothea Krause (1935–2024)
Die Architektin arbeitete als Stadtplanerin im Büro für Städtebau des Magistrats von Berlin. Sie prägte maßgeblich die Planungen für den früheren Industriekomplex Lichtenberg Nordost, der heute unter dem Namen „Berlin Eastside“ bekannt ist.
Gerhard Jung (geb. 1929)
Der Ingenieur war Leiter der Abteilung für Verkehr, Straßenwesen und Wasserwirtschaft (1967–1970) sowie Stadtrat für Verkehr und Nachrichtenwesen (1975–1978) im Magistrat von Berlin. Er war verantwortlich für den Ausbau der Verkehrsnetze und die Verkehrsplanung für Personen- und Berufsverkehr.
Wolf-Rüdiger Eisentraut (geb. 1943)
Der Architekt entwarf das städtebauliche Konzept des Hauptzentrums Marzahn mit unter anderem Bahnhof, Warenhäusern, Kulturhaus, Promenade, Schwimmhalle und Rathaus (1979–1990). Er wirkte ebenfalls am Bau des Palasts der Republik (1976) und der Gaststätte „Seeterrassen“ im Fennpfuhl (1985) mit.